Warum Grenzen für die kindliche Entwicklung so wichtig sind!
„Maaaaama, kooohooomm!“ Die vierjährige Anna zerrt ununterbrochen am Arm ihrer Mutter, der immer länger zu werden scheint, während diese versucht sich mit mir zu unterhalten, um ein paar organisatorische Kiga-Dinge zu klären. Die Mutter lässt dieses Gezerre geschehen, schaut mich hilflos an und beschwichtigt ihre Tochter, dass sie ja gleich komme. Anna macht weiter und schreit. Die Mutter bleibt ruhig, wirkt aber zunehmend angespannt.
Inzwischen kann ich unsere Worte kaum noch verstehen. Darauf zuckt die Mutter mit den Schultern und bittet mich darum, unser Gespräch auf morgen zu verschieben, da Anna gerne los möchte. Darauf wendet sie sich zu ihrer Tochter und versucht sie zu beruhigen, indem sie ihr verspricht, dass sie sich gleich beim Einkaufen was aussuchen darf.
Seit etwas 10 Jahren beobachte ich, dass die Frustrationstoleranz von Kindern zunehmend schwindet. Im Kindergartenalltag fällt es vielen Kindern schwer ein Nein auszuhalten, Grenzen zu akzeptieren und schnell macht sich Frust breit. Es wird gemault, geschimpft und geheult was das Zeug hält. Gebaute Dinge werden zerstört, Eltern oder andere Kinder bekommen die Frustration in Form von Knuffen oder anderen Formen körperlicher Gewalt ab – alles schon erlebt.
Eltern: Entweder hilflos oder schlaue Hobbypädagogen
In Gesprächen sitzen mir dann oft Eltern gegenüber, die entweder hilflos sind, nicht mehr weiter wissen, weil „ihr Kind ihnen auf der Nase herumtanzt“. Sie möchten zu gerne perfekte Eltern sein und alles richtig machen, doch leider grätscht ihnen die Realität, die komplett anders ist, als sie erhofft hatten, brutal dazwischen.
Viele Eltern sind heute auch sehr belesen, machen sich Gedanken und die verschiedenen Erziehungskonzepte werden kritisch unter die Lupe genommen. In digitalen Foren und WhatsApp-Gruppen finden Schlachten zwischen den verschiedenen pädagogischen Lagern statt und nicht selten geben mir Eltern tatsächlich Erziehungs-Tipps, wie ich – als langjährig ausgebildete pädagogische Fachkraft – am besten arbeiten soll. Unfassbar!
Und natürlich gibt es auch Eltern, die ihre Kinder mit liebevoller Klarheit ins Leben führen, die nicht endlos diskutieren, sondern eine klare Richtung vorgeben. Im Kindergartenalltag erlebe ich solche Kinder ausgeglichener und zufriedener. Und natürlich kommt auch bei diesen Kindern manchmal Frust auf, wenn die eigenen Pläne durchkreuzt werden.
Sobald ich aber ihre Gefühle spiegele, z.B. mit „Jetzt bist du bestimmt traurig, denn du wolltest als erste mit dem Laufrad fahren?“, fühlen sie sich verstanden und gesehen und oft reicht diese Spiegelung aus, um zu signalisieren: Ich weiß, wie du fühlst, aber trotzdem musst du jetzt noch etwas warten, bis du dran bist. Durch solche kleinen Alltagssituationen lernen Kinder immer wieder häppchenweise Frustrationstoleranz.
Frustration wird oft "gedeckelt"
Natürlich geht es in der heutigen Erziehung nicht mehr darum, dass Kinder nur „gehorchen“ sollen. Das ist alter Schnee von vorgestern. Unsere Gesellschaft ist schnelllebiger geworden, die digitalen Medien sind für Kinder allgegenwärtig und das prägt ihre Kindheit. Oft müssen beide Elternteile arbeiten und im Gegensatz zu früher schrumpft die wertvolle Familienzeit.
Ich denke, dass Eltern heute einem Stress ausgesetzt sind, der zu Unsicherheit und Überforderung führt. Die Medien und ganz besonders die Werbung verspricht uns immer wieder ein Glücksgefühl, „wenn wir dies oder das gekauft haben“. Kurzzeitige Dopaminausschüttung vom Feinsten und wir sind (erst einmal!) zufrieden. Ganz schön clever!
Doch – wie beim o.g. Beispiel „Anna und ihre Mutter“ – hält das Glücksgefühl bei der Tochter durch den Kauf eines Spielzeugs / einer Süßigkeit leider nur kurz an und eine Leere macht sich wieder breit. Durch solche gut gemeinten Maßnahmen erreicht man keine Sättigung, im Gegenteil: Die Suchtspirale dreht sich munter weiter, denn das eigentliche kindliche Bedürfnis nach Zugehörigkeit, Halt und Sicherheit wird nicht gestillt.
Was brauchen Kinder wirklich?
Sobald Kinder das erste gewohnte soziale Umfeld der Familie erweitern, erleben sie im Kindergarten viele neue und aufregende Dinge:
- Viele neue und verschiedene Kinder
- Neue Betreuungspersonen
- Warten, bis man an der Reihe ist
- Neue Spielsachen
- Spielsachen teilen
- Neue Frühstückssituationen
- Sich selbst an- und ausziehen
- Sich langweilen
- Toilettengänge ohne Mama oder Papa
- Erhöhte Lautstärke und so einiges mehr
All das verarbeitet das Kind und nach und nach findet es seinen Platz in dieser neuen sozialen Gruppe. Je besser es von seinen Eltern auf diese „neue Welt“ vorbereitet wird, umso leichter fällt es dem Kind. Doch was braucht ein Kind, damit es im Kindergarten und später auch in der Schule mit vielen anderen Menschen gut zusammenleben kann?
Aus meiner langjährigen Erfahrung kann ich sagen, dass Kinder, die liebevolle Zuwendung, Zuverlässigkeit und Sicherheit innerhalb ihrer Familie erfahren haben, ein gutes Zugehörigkeitsgefühl entwickeln konnten, mehr in sich ruhen und mit Frust viel besser umgehen können. Doch was ist das Rezept dafür?
Das Schönste für uns Menschen ist das Gefühl geliebt zu werden und zu einer Gemeinschaft dazuzugehören. Ein Kind wird mit der Geburt aus der Enge des Mutterleibes heraus in unsere Welt geboren und erfährt erst einmal grenzenlose Freiheit, die völlig neu und ungewohnt ist. Bisher hat die Begrenzung dem Baby Halt gegeben. Nach der Geburt verändert sich alles: Von der engen, wohligen Geborgenheit in Mamas Bauch kommt das Baby in eine große, helle Welt, ganz ohne Grenzen. Doch erst durch Begrenzung, durch ein „Du“ fühlt sich ein Kind selbst, findet sich zurecht in der großen weiten Welt.
Meine Grenze ist dein Halt!
Ich finde es für die gesunde Entwicklung von Kindern enorm wichtig, Grenzen zu erfahren und bin immer erstaunt, warum viele Eltern Grenzen für den Erzfeind halten! Grenzen geben meinem Kind Halt und Sicherheit. Kindergartenkinder zu viele Freiheiten und Entscheidungen zu überlassen, überfordert sie.
Verstehe mich nicht falsch. Ich bin ein absoluter Fan davon, dass Kinder auch Entscheidungen treffen sollen, aber bitte angepasst an ihr Alter! Ein dreijähriges Kind morgens beim Bringen zu fragen, wer und wann oder mit welchem Auto (ja, alles schon erlebt!) es mittags wieder abgeholt werden möchte, überfordert und verunsichert, denn solche Entscheidungen kann und sollte ein Kind nicht beantworten müssen!
Eltern, übernehmt bitte wieder Verantwortung!
Ich glaube, dass viele Eltern Angst vor Liebesverlust haben, wenn sie ihr Kind begrenzen. Drei- bis sechsjährige Kinder werden heute oft in alle möglichen Entscheidungen einbezogen: In der Bring- und Abholzeit, beim Einkaufen im Supermarkt – überall die gleichen Fragen:
Was wollen wir einkaufen? Was soll gekocht werden? Was möchtest du haben? Wann soll ich dich abholen? Wer soll dich abholen? Was willst du anziehen? Wer trägt die Kindergartentasche? Was soll in die Frühstücksdose? Und und und…
Bitte, liebe Eltern, gebt wieder eine Richtung vor! Traut euch wieder ein klares Nein auszusprechen und hört auf zu diskutieren! Eltern diskutieren mit ihren kleinen Kindern heute oft so viele Dinge durch, da sie offensichtlich selbst haltlos geworden sind und sich eine kumpelhafte Eltern-Kind-Beziehung auf Augenhöhe ersehnen. Diese kann sich viel später auch entwickeln, aber doch bitte nicht in der Entwicklungsphase, in der Kinder Halt und Zuverlässigkeit und einen sicheren „Fels in der Brandung“ brauchen, der Klarheit vermittelt, auf die sich ein Kind entspannt verlassen kann!
Wenn ein Kind seine eigenen Grenzen kennt, respektiert es auch die Grenzen der anderen.
Kinder müssen sich in unserer großen, bunten und lebendigen Welt erst einmal zurecht finden und wachsen hinein in alles, was der Alltag mit sich bringt. Die eigenen Bedürfnisse und Ideen sollen ihren Platz finden, aber auch die der anderen müssen respektiert werden, um ein gutes Miteinander zu erleben.
Konflikte sind natürlich vorprogrammiert, denn Kompromisse einzugehen, wurde Kindern nicht in die Wiege gelegt. Dieses Verhalten muss erlernt werden und wir Erwachsenen können sie dabei tatkräftig und liebevoll unterstützen! Wir brauchen kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn wir Kinder einschränken oder ein Nein aussprechen. Liebe und Klarheit sind gute Weggefährten, die uns helfen, ein sicherer Hafen für unsere Kinder zu sein, in dem sie immer anlegen können!