Entscheidungen treffen will gelernt sein – Vom Beobachten zum eigenen Handeln
Eigentlich schreibe ich ja am liebsten über Ideen und Tipps, die deinen Kiga-Alltag würzen, versüßen und inspirieren, doch schon länger brennt mir dieses brisante Thema unter den Nägeln und nun „hau ich es einfach mal raus“, denn die Lage in unserem Kindergarten spitzt sich immer weiter zu. Tagtäglich beobachte ich im Kindergartenalltag, dass immer mehr Kinder sozial und alltagsbezogen überfordert sind. Sie halten sich nicht an Regeln, verweigern Gruppenaktivitäten oder wirken antriebslos. So sind inzwischen Vierjährigen mit dem Schuhe anziehen oft so überfordert, dass sie weinend zusammenbrechen, weil es ihnen zu anstrengend ist sich zu bewegen und ihre eigenen Hände benutzen zu müssen. Selbstwirksamkeit wird nicht mehr erlernt oder zu wenig erfahren.
Viele Eltern nehmen ihren Kindern „schwierig“ erscheinende Handlungen oft ab, damit es schneller geht. Besonders auffällig ist, dass viele Kinder Schwierigkeiten haben, sich in bestehende Strukturen, wie z.B. den Morgenkreis oder gemeinsame Kreisspiele einzufügen. Statt sich in der Gruppe zurechtzufinden, fordern sie ständig individuelle Entscheidungen ein, zeigen Widerstand gegen vorgegebene Abläufe und sind immer seltener in der Lage Kompromisse einzugehen. Früher besaßen die meisten Kindern selbstverständlich noch soziale Grundfähigkeiten, die für ein soziales Miteinander im Kindergarten wichtig waren – und immer noch sind. Dazu zählen für mich abwarten können, teilen können, Regeln befolgen können.
Doch die Zeiten haben sich geändert! Verstehe mich bitte nicht falsch. Es geht mir überhaupt nicht um eine Gehorsamserziehung wie Anno dazumal, sondern um Fähigkeiten, die ein Miteinander erst möglich und auch angenehm machen. Dass Kinder dies alles erst erlernen müssen, ist ja klar, aber wenn einem Kind diese „sozialen Basics“ erst im Kindergarten abverlangt werden, bricht im Kind eine Welt zusammen. Aus meinen Augen ist es die Aufgabe der Eltern, ihre Kinder auf die Kindergartenwelt vorzubereiten und dies findet oft nicht mehr statt.
Nach Überforderung kommt schreien

Diese Entwicklung ist längst kein Einzelfall mehr. In vielen Kitas und pädagogischen Einrichtungen gehört dieses Problem inzwischen zum Alltag. Immer mehr Fachkräfte schlagen Alarm. Bei einer Gruppengröße von 25 Kindern können 2 Erzieherinnen diesen Individualismus einfach nicht mehr tragen. Immer mehr Erzieherinnen werden krank, fühlen sich mit der Situation überfordert und landen nicht selten im Burnout. Diesen „Trend“ erlebe ich seit ca. 10 Jahren und stelle fest, dass Kinder zunehmend überfordert sind – insbesondere dann, wenn sie zu früh mit Entscheidungen konfrontiert werden, die sie in ihrem Alter noch gar nicht bewältigen können. Anstatt Orientierung und Führung zu erhalten, werden sie oft vor Wahlmöglichkeiten gestellt, die ihre kognitive Entwicklung überfordern. Doch warum ist das so problematisch?
Wenn Eltern Entscheidungen abgeben – Ein fataler Trend
In vielen Familien wird die Führungsrolle zunehmend den Kindern überlassen. Wenn Eltern schon früh morgens fragen: „Welche Brotdose möchtest du mitnehmen?“, Was möchtest du essen?“, „Worauf hast du Lust?“, „Was möchtest du anziehen?“, „Wann soll ich dich abholen?“ ist das kleine Gehirn schon so überfordert, dass es die einprasselnden verbale Anforderungen nicht auf die Weise verarbeiten kann, wie es Erwachsene können. Diese vermeintlich partizipative Erziehung kann für Kinder zur großen Belastung werden!
Kinder sind nicht in der Lage, alle diese Entscheidungen eigenständig zu treffen, weil ihnen die kognitive Reife und die Erfahrung fehlen.
Stattdessen werden sie in einen Zustand der Unsicherheit versetzt, da sie keinen klaren Rahmen und keine Orientierung erhalten. Dies kann sich negativ auf ihr Sozialverhalten auswirken und dazu führen, dass sie sich in Gruppen nicht einfügen können, weil sie es nicht gewohnt sind, klare Regeln und Vorgaben zu befolgen.
Kinder brauchen Orientierung – Warum klare Vorgaben so wichtig sind
Aus meiner Sicht brauchen Kinder feste Strukturen, klare Regeln und liebevoll-konsequente Leitpersonen, um sich sicher und geborgen zu fühlen. Werden ihnen diese entzogen, entsteht Unsicherheit, die zu Überforderung und Rückzug führen kann. Eltern, die konsequente und liebevolle Führung übernehmen, ermöglichen ihrem Kind eine gesunde Entwicklung. Sie setzen Rahmenbedingungen und geben Orientierung vor, an denen sich das Kind entlanghangeln kann. Dies bedeutet nicht, dass Kinder keine Freiräume haben sollen – aber innerhalb eines Rahmens, den die Eltern vorgeben.
Vorteile klarer Vorgaben:
- Kinder lernen, Regeln und Strukturen zu akzeptieren.
- Sie erfahren Sicherheit durch verlässliche Entscheidungen der Eltern.
- Die Überforderung durch zu viele Wahlmöglichkeiten wird reduziert.
- Kinder können sich auf ihre emotionale und soziale Entwicklung konzentrieren.
- Entscheidungen treffen will gelernt sein – Vom Beobachten zum eigenen Handeln
Aber Kinder wissen doch, was gut für sie ist!
Tun sie das? Ein grundlegender Fehler in der heutigen Erziehung ist die Annahme, dass Kinder intuitiv wissen, wie man Entscheidungen trifft. Tatsächlich müssen sie dies erst über lange Zeiträume hinweg lernen – und zwar durch das Beobachten ihrer Eltern und anderer Bezugspersonen.
Kinder sollten miterleben, wie Erwachsene Entscheidungen fällen: Wie wägen sie Vor- und Nachteile ab? Wie gehen sie Kompromisse ein? Wie finden sie Lösungen in schwierigen Situationen? Erst wenn Kinder diesen Prozess über längere Zeit beobachtet haben, können sie selbst anfangen, kleine Entscheidungen zu treffen.
Wie Kinder lernen, Entscheidungen zu treffen:
Beobachtung: Kinder sehen, wie Erwachsene Entscheidungen abwägen.
Teilnahme: Eltern beziehen Kinder altersgerecht in kleine Entscheidungsprozesse ein.
Selbstständigkeit: Nach und nach übernehmen Kinder mehr Verantwortung für eigene Entscheidungen – aber immer innerhalb eines klar definierten Rahmens.
Auf in den sicherer Hafen
Kinder brauchen Eltern, die ihnen Sicherheit und Geborgenheit schenken – einen festen Hafen, in den sie jederzeit zurückkehren können. Ihr Alltag und ihr Spiel sind wie das weite Meer: Aufregend, lebendig und voller neuer und spannender Entdeckungen! In diesem Abenteuer ist es wichtig, dass Eltern eine verlässliche Anlaufstelle sind, die Schutz und Orientierung bietet. Ein sicherer Hafen bedeutet, Verantwortung zu übernehmen, anstatt sich von den Wellen des Alltags treiben zu lassen. Das zeigt sich in vielen kleinen Entscheidungen: Eltern sollten wissen, was ihren Kindern guttut, was sie stärkt und wie sie ihnen helfen können, Körper, Geist und Seele im Gleichgewicht zu halten und dazu gehören auch Grenzen.
Überforderung durch frühe Wahlfreiheit
Zu früh von Kindern zu erwarten, dass sie eigenständig auswählen können, führt dazu, dass sie überfordert und frustriert werden. Sie benötigen Zeit und Anleitung, um diese wichtige Fähigkeit zu entwickeln.
Tipps für eine klare Elternrolle:
Klare Entscheidungen treffen: Eltern sollten wissen, was gekocht wird, welche Aktivitäten sinnvoll sind und was für ihr Kind das Beste ist.
Führung übernehmen: Kinder dürfen mitentscheiden, aber nicht die Verantwortung für grundlegende Entscheidungen tragen.
Verlässlichkeit zeigen: Konsequenz und Stabilität schaffen Vertrauen und Sicherheit.
Vorbild sein: Kinder lernen durch Nachahmung – Erwachsene sollten bewusst vorleben, wie sie Entscheidungen treffen und Probleme lösen.
Sicherheit durch liebevolle Elternschaft
Kinder brauchen keine grenzenlose Freiheit in ihrer Entscheidungsfindung, sondern klare Vorgaben und eine liebevolle Führung. Eltern, die Verantwortung übernehmen, geben ihren Kindern die Sicherheit, die sie für eine gesunde Entwicklung benötigen. Indem Kinder über Jahre hinweg beobachten, wie Erwachsene Entscheidungen treffen, können sie diese Fähigkeit schrittweise erlernen – in einem Tempo, das ihrem Entwicklungsstand entspricht. Letztlich ist es die Aufgabe der Eltern, ihren Kindern als verlässlicher und liebevoller Anker zur Seite zu stehen und sie auf ihrem Weg zu begleiten.
Warum Eltern es heutzutage oft nicht mehr schaffen, liebevoll und klar Grenzen zu setzen
In der heutigen Gesellschaft fällt es vielen Eltern zunehmend schwer, klare Grenzen zu setzen und konsequent zu bleiben. Doch warum ist das so?
Eigene Überforderung der Eltern
Viele Eltern stehen unter enormem Druck – sei es durch den Spagat zwischen Beruf und Familie, hohe gesellschaftliche Erwartungen oder die Angst, Fehler zu machen. In der ständigen Bemühung, alles „richtig“ zu machen, vermeiden sie oft Konflikte mit ihren Kindern und geben zu schnell nach.
Der Anspruch, alles perfekt machen zu wollen
Die heutige Elterngeneration klickt sich im Netz nicht selten durch Erziehungstipps. Instagram und Co bieten hier eine Fülle von Ratschlägen. Auf das eigene gesunde Bauchgefühl zu vertrauen ist da nicht immer leicht und oft möchte man alles besser machen als frühere Generationen. Der Wunsch, das Kind optimal zu fördern, führt jedoch häufig zu einer übermäßigen Rücksichtnahme auf die Wünsche des Kindes – selbst dann, wenn klare Regeln erforderlich wären. Hier ist es auch unsere Aufgabe Eltern zu vermitteln: Eine perfekte Erziehung gibt es nicht!
Eltern wollen von ihren Kindern gemocht werden
Viele Eltern haben Angst davor, dass ihre Kinder sie weniger lieben könnten, wenn sie klare Grenzen setzen. Sie möchten nicht „streng“ oder „autoritär“ wirken und glauben, dass ein harmonisches Verhältnis nur dann möglich ist, wenn sie dem Kind alle Wünsche erfüllen und mit ihm „auf Augenhöhe sind“. Aber die kindliche Entwicklung braucht etwas anderes. Wenn Kinder erleben, dass Eltern verlässlich zu einem Ja ebenso stehen wie zu einem Nein, spüren sie, dass auf sie Verlass ist und sie den Eltern vertrauen können. Das stärkt Bindung und Beziehung.
Angst, die Liebe des Kindes zu verlieren
Die Angst, die Bindung zum Kind zu gefährden, führt dazu, dass viele Eltern zögern, konsequent zu sein. Doch genau das Gegenteil ist der Fall: Kinder brauchen Orientierung und liebevolle Führung, um sich sicher zu fühlen. Sie testen Grenzen aus, um herauszufinden, ob ihre Eltern sie zuverlässig führen können.
Eltern "mit ins Boot holen"
Verlässlichkeit und Klarheit in der Erziehung sind wichtiger denn je. Kinder brauchen Eltern, die ihnen Halt geben und sie nicht durch übermäßige Entscheidungsfreiheit überfordern. Eltern müssen sich bewusst machen, dass sie nicht die besten Freunde ihrer Kinder sein müssen – sondern verlässliche, liebevolle Führungspersonen, die Orientierung geben. Nur so können ihre Kinder sich gut im Kindergarten und Schule zurecht finden und nach und nach zu selbstbewussten und zufriedenen Erwachsenen heranwachsen.
Mit Eltern über dieses Thema ins Gespräch zu kommen, ist vielleicht nicht ganz leicht, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass Eltern oft erleichtert sind, wenn ich das Thema „auf den Tisch packe“, denn auch in ihrem Alltag hangeln sich viele von Situation zu Situation und sind gefangen in einem Teufelskreis. Ich kann dich nur dazu ermutigen die „heiße Kartoffel“ auf den Tisch zu legen, denn das Problem ist allgegenwärtig und nur zusammen können wir etwas verändern. Sich anzuvertrauen, wirklich zuzuhören und zusammen einen Schritt-für-Schritt-Plan entwickeln, macht Eltern Hoffnung.
Manchmal brauchen sie ganz klare Ideen für den Alltag. Tipp: Gehe mit ihnen in einem persönlichen Gespräch ihren Tag mit ihrem Kind durch, finde heraus wo und wann „der Schuh drückt“ und entwickelt zusammen klare Alternativen zu bisherigen Umgangsformen für mehr Klarheit und Orientierung. Vereinbart in 4 Wochen ein erneutes Treffen, bei dem ihr sehen könnt, ob und was sich verändert hat. Ich wünsche dir Mut, Vertrauen und Zuversicht, denn die Zeit, in der wir gerade leben, verlangt von uns oft einen Alltagsspagat, den wir alleine einfach nicht schaffen!